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Andrej Holm: »Wohnen produziert Ungleichheit«

Welche Rolle spielt Wohnen in der kapitalistischen Gesellschaft und wie können wir es der Verwertungslogik entziehen. Über diese und andere Fragen sprach Argument mit Sozialwissenschaftler Andrej Holm.

Welche unterschiedlichen Dimensionen hat Wohnen für verschiedene Teile der Gesellschaft?

Andrej Holm: Für die allergrößte Mehrheit der Menschen bedeutet Wohnen ein Zuhause zu haben und für eine kleine Minderheit von Grundbesitzenden ist es ein Wirtschaftsgut. Das Wohnen als Zuhause und das Wohnen als Immobilie steht in einem dauer- haften Spannungsverhältnis. Über 150 Jahre wiederkehrende Wohnungskrisen zeigen, dass es hier um eine systemische Konfliktkonstellation geht, die nicht mit kurzfristigen Antworten zu lösen ist, sondern grundsätzliche Transformationen benötigt.

Welche Rolle spielt Wohnraum für die kapitalistische Akkumulation?

Andrej Holm: Marx und Engels sehen Wohnen eigentlich nur als einen sekundären Missstand. Da hat die Ausbeutung schon statt- gefunden und die Mieter:innen handeln als Gleichberechtigte auf einem Markt. Heute sehen wir aber, dass die Bedeutung von Immobilien, im Zuge der Finanzialisierung der kapitalistischen Wirtschaft, einen ganz zentralen Stellenwert einnimmt. Wohnen hat heute eine zentrale Rolle bei der Verteilung des Mehrwerts. Auf der einen Seite wird Vermögen angehäuft und auf der anderen Seite durch die Notwendigkeit zu Mieten verunmöglicht. Wohnen spiegelt also nicht nur die Ungleichheit in der Gesellschaft wider, Wohnen produziert sie auch.

Was sind Strategien aus linker sozialistischer Sicht, um die Wohnungsfrage zu lösen?

Andrej Holm: Die grundsätzliche Strategie ist natürlich Dekommodifizierung, also Wohnen aus der Warenlogik herauszulösen. Dafür gibt es verschiedene Möglichkeiten. Gerade in Wien, mit den gemeinnützigen Wohnbauträgern, gibt es Strukturen, in denen sich die Marktlogik nicht so leicht durchsetzen kann. Der direkte öffentliche Wohnungsbau ist ebenso eine Strategie, die Potential hat. Daneben gibt es auch Nischenprojekte, wie etwa das Mietshäuser Syndikat in Deutschland oder habiTAT in Österreich. Sie zeigen im kleinen Rahmen, wie Wohnbau ohne Rendite funktionieren kann. Da ist natürlich die Frage, wie man das größer skalieren kann. Diejenigen, die am dringendsten leistbares Wohnen brauchen, haben oft gar nicht die Zeit, gemeinsam ein Haus zu planen und sich in ein Plenum zu setzen. Da ist öffentlicher Wohnungsbau die leichtere Lösung.

Welche Möglichkeiten hat staatliche Politik, um hier einzugreifen?

Andrej Holm: Der Staat hat grundsätzlich drei Möglichkeiten: Er kann regulieren, er kann Geld ausgeben, um Wohnen zu fördern, oder er kann selbst bestimmte Leistungen bereitstellen, indem er Wohnungen schafft. Für eine Dekommodifizierung geeignet ist dabei nur die Option der Be- reitstellung. In den letzten Jahren ist dabei das Schlagwort von “Wohnen als soziale Infrastruktur” in die Diskussion gekommen. Diese Vorschläge sind auch eine Chance, sich von der Vorstellung zu verabschieden, die Kosten für den Wohnbau müssten aus den Mieten refinanziert werden. Da schaut man zu Recht auf das traditionelle Rote Wien, wo der Wohnbau aus den Wohnbausteuern finanziert wurde. Das ist letztlich eine Frage der politischen Prioritätensetzung. Was möglich ist, hängt immer von den konkreten Kräfteverhältnissen ab.

In Berlin ist Enteignung ein großes Thema, wie ist das gelungen?

Andrej Holm: Die Übernahme von möglichst großen Immobilienbeständen in öffentliches Eigentum ist natürlich auch eine zentrale Strategie. Dass wir darüber heute ernsthaft diskutieren, hatte drei Voraussetzungen. Erstens sind die Wohnkosten in Berlin in den letzten 15 Jahren drastisch gestiegen. Es ist daher noch im Bewusstsein, dass Wohnen gar nicht so teuer sein muss. Die zweite Voraussetzung war, dass leistbares Wohnen zentraler Teil der politischen Agenda war. Gleichzeitig wurde deutlich, dass Maßnahmen wie der rechtlich gescheiterte Mietendeckel oder der Milieuschutz nicht ausreichen. Und der dritte Punkt ist eine sehr stark ausgeprägte Tradition, dass soziale Bewegungen parteiunabhängig agieren.
Auf Basis dieser Voraussetzungen waren viele Menschen davon zu überzeugen, den Vorschlag zu Enteignungen nicht als radikalen Vorschlag von Spinnern abzutun, sondern ihn als pragmatische Lösung eines drängenden Problems anzusehen.

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Andrej Holm

Andrej Holm ist Sozialwissenschaftler mit den Themenschwerpunkten Stadterneuerung, Gentrifizierung und Wohnungspolitik. Er war kurzzeitig Staatssekretär für Stadtentwicklung und Wohnen der Landesregierung von Berlin.

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