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Walter Baier: »Wir brauchen vor allem Frieden in Europa. Sonst ist alles irrelevant.«

Walter Baier vor dem Petersdom in Rom.

Walter Baier ist seit einem Jahr Präsident der Europäischen Linken (EL) – ein Zusammenschluss von 25 europäischen Mitgliedsparteien mit nahezu 500.000 Mitgliedern und 38 Abgeordneten. Aus Anlass der bevorstehenden Wahlen, wie auch des siebzigsten Geburtstags – zu dem wir dem ehemaligen Vorsitzenden der KPÖ recht herzlich gratulieren – folgt ein Gespräch mit dem EL-Präsidenten zu politischen Perspektiven im Wahljahr.

Was sind Deiner Meinung nach die größten Herausforderungen, die die europäischen Gesellschaften und die EU in den nächsten fünf Jahren bewältigen müssen?

Baier: Europa wäre tatsächlich ein guter Ort zum Leben. Dazu müsste allerdings jeder das Recht auf einen anständig bezahlten Arbeitsplatz und eine angemessene, erschwingliche Wohnung, kostenlose Bildung, Gesundheitsversorgung und Mobilität haben. Wir müssen den Übergang zu einer ökologischen und digitalisierten Wirtschaft sozial gerecht gestalten. Das alles sollte in den nächsten fünf Jahren möglich sein. Dazu brauchen wir vor allem Frieden in Europa. Sonst ist alles irrelevant.

Gegenwärtig gibt es zwei große bewaffnete Konflikte direkt außerhalb der EU-Grenzen: einen in der Ukraine nach der russischen Invasion und einen in Palästina nach dem Terroranschlag der Hamas und der staatsterroristischen Reaktion Israels. Gleichzeitig scheinen die Friedensbewegung und die internationale Gemeinschaft nicht in der Lage zu sein, wirksam auf eine Rückkehr zum diplomatischen Weg und eine friedliche Lösung der Streitigkeiten zu drängen. Wie beurteilst Du die Haltung der EU in Bezug auf die derzeitige internationale Lage und welche Strategie hältst Du für die beste, um einen nachhaltigen und dauerhaften Frieden in unserer Region und weltweit zu erreichen?

Baier: Die EL hat die Aggression der Russischen Föderation vom ersten Tag an verurteilt und betont, dass der in der UN-Charta verankerte Verzicht auf Gewalt in den internationalen Beziehungen der wichtigste zivilisatorische Fortschritt des 20. Jahrhunderts ist.

Wir haben auch den Terroranschlag der Hamas auf Israel verurteilt. In der Zwischenzeit sind in Gaza mehr als 25.000 Menschen gestorben und 1,9 Millionen sind auf der Flucht. Die Gewalt, die Netanjahu in Gaza anordnet, übersteigt jedes Maß an legitimer Selbstverteidigung. Sie kommt einer ethnischen Säuberung gleich.

Am dringendsten ist es heute, die von der UN-Generalversammlung geforderte humanitäre Waffenruhe durchzusetzen. Darüber hinaus ist klar, dass eine langfristige Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts erforderlich ist. Die Rechte beider Völker auf ein Leben in Frieden und Sicherheit in zwei unabhängigen Staaten müssen anerkannt werden.

Aber wir müssen auch den geopolitischen Zusammenhang sehen. Wir erleben den Niedergang eines Weltsystems, das durch die Entfremdung von Mensch und Natur, die Verschwendung von Ressourcen und die Ausbeutung des globalen Südens durch die privilegierten Klassen im globalen Norden gekennzeichnet ist. Nicht weniger als 22 Kriege werden derzeit auf der Welt geführt. Papst Franziskus hat dies zu Recht als einen Weltkrieg auf Raten bezeichnet.

Trotzki, der ein weitaus besserer Analytiker als Politiker war, erklärte am Vorabend des Zweiten Weltkriegs, dass die Krise der Menschheit in der Krise der Führung der Arbeiterklasse besteht. Wir würden es heute weniger orthodox formulieren, aber es ist immer noch wahr: Die fortschrittlichen Kräfte, mit Ausnahme Lateinamerikas, sind in der Defensive und weit davon entfernt, den Umwälzungen in der heutigen Welt eine emanzipatorische Richtung zu geben.

Die Erhaltung des Friedens steht daher im Mittelpunkt, und die Europäer*innen müssen erkennen, dass ihr Kontinent mit den ungelösten Probleme, die der Kalte Krieg hinterlassen hat, zu einem Brennpunkt der Weltpolitik geworden ist. Wenn wir eine Katastrophe vermeiden wollen, müssen wir die Spirale von Gewalt und Eskalation in der Ukraine und in Gaza stoppen. Wir müssen die Logik der Militärblöcke überwinden, die sich gegenseitig mit atomarer Vernichtung drohen.

Wir brauchen keine neuen Waffen in Europa, sondern eine Friedensordnung, die auf Gewaltverzicht beruht. Wir treten dafür ein, dass Europa seine Sicherheit selbst in die Hand nimmt – nicht durch die Aufrüstung der NATO oder den Aufbau einer europäischen Armee, sondern durch friedliche, vorteilhafte und solidarische Beziehungen zu allen Regionen der Welt. Wir wollen ein Europa, das Schritt für Schritt zu einem Kontinent wird, der frei von dem Alptraum der Atomwaffen ist. Wir fordern, dass die EU den UN-Vertrag über das Verbot von Atomwaffen unterzeichnet, der von der UNO angenommen und von mehr als 60 Staaten ratifiziert wurde und internationales Recht ist.

Während der Pandemie haben viele Menschen – Akademiker, Politiker, Gewerkschafter usw. – die Hoffnung geäußert, dass diese schwere Krise der Katalysator sein wird, der die EU und die nationalen Regierungen zwingen wird, die neoliberalen Strategien aufzugeben und die Bedeutung der öffentlichen Dienstleistungen, des Sozialstaates und der Gemeinschaftsgüter anzuerkennen. Glaubst Du, dass sich diese Hoffnung bewahrheitet hat?

Baier: Es stimmt, dass die EU-Kommission unter dem Druck der Öffentlichkeit von der orthodoxen Sparpolitik abgerückt ist, die in der Finanzkrise 2007/2008 so viel Schaden angerichtet hat. Während der Pandemie wurde der Stabilitäts- und Wachstumspakt, mit dem die Sparpolitik durchgesetzt wurde, suspendiert. Über das Konjunkturprogramm NextGenerationEU wurden Mittel für die Digitalisierung und Ökologisierung der Wirtschaft mobilisiert. Alles zu wenig, zu spät und nicht zufriedenstellend, aber immerhin!

Doch der Neoliberalismus ist nicht tot, denn er steckt im Vertrag von Lissabon, der unregulierten Märkten Vorrang vor sozialen und ökologischen Zielen einräumt. Wenn es nach den neoliberalen Hardlinern wie dem deutschen Finanzminister Lindner geht, wird der Stabilitäts- und Wachstumspakt im nächsten Jahr reaktiviert werden. Dabei zeigt die Budgetkrise in Deutschland, was das bedeutet: Kürzungen im sozialen Bereich, bei den öffentlichen Dienstleistungen, den Kommunen und den Investitionen in die Infrastruktur. Die EL unterstützt daher die Kampagne des Europäischen Gewerkschaftsbundes für ein endgültiges Ende der Sparpolitik.

In den letzten Jahren haben Griechenland, aber auch viele andere europäische Länder, die Folgen der Klimakrise zu spüren bekommen: Größere Naturkatastrophen werden immer häufiger und haben immer stärkere Auswirkungen auf die Infrastruktur, aber auch hohe Kosten an Menschenleben. In diesem Zusammenhang ist die Energiewende zu einem Hauptthema der EU-Politik geworden. Es scheint jedoch, dass sich diese Transformation nur als eine weitere große Chance für den globalen Kapitalismus erweisen wird, ein “grünes Eldorado”. Wie kann sich die Linke für eine ökologische Transformation einsetzen, die zu mehr sozialer Gerechtigkeit führt, anstatt den Kapitalismus zu stärken?

Baier: Die eine Frage lautet: Wird genug getan und werden die Maßnahmen schnell genug ergriffen? Offensichtlich nicht. Daher warnen Wissenschaftler*innen davor, dass das 1,5-Grad-Ziel nicht erreicht werden wird. Der Plan, die Energiewende mit einem Marktmechanismus und Marktanreizen umzusetzen, ist gescheitert. Dies führt zur zweiten Frage: In welcher Richtung wird der Ausweg aus der ökologischen Krise gesucht?

Ökologisierung und Digitalisierung führen zu großen Veränderungen der Arbeit. Der Umbau der Wirtschaft wird nur gelingen, wenn er zum Anliegen der Mehrheit der Bevölkerungen wird. Deshalb ist es so wichtig, was die Gewerkschaften betonen: Wir brauchen einen gerechten Übergang, bei dem niemand zurückgelassen wird. Durch die ökologische Transformation können Hunderttausende neue Arbeitsplätze geschaffen werden.

Das kostet viel Geld. Das Geld ist vorhanden. Um es zu bekommen, ist eine grundlegende Umverteilung gesellschaftlicher Ressourcen notwendig – von Rüstung zu Ökologie, vom globalen Norden zum Süden und vom Privatkapital zur Gesellschaft. Und schließlich kann die ökologische Transformation nicht den Märkten überlassen werden, sondern erfordert demokratische wirtschaftliche Planung, vor allem der Wirtschaftsdemokratie. Schließlich dürfen wir auch nicht vor Änderungen in den Eigentumsverhältnissen zurückschrecken.

Unternehmen, die dem Allgemeinwohl dienen sollen, die Pharmaindustrie, die Trinkwasserversorgung, die Energieerzeugung und -versorgung, der öffentliche Verkehr und die digitalen Medien müssen in Gemeingüter für die Gesellschaft umgewandelt werden.

All die Herausforderungen, über die wir gesprochen haben, sind so wichtig, dass es nicht nur für ein einzelnes Land, sondern auch für eine einzelne politische Familie ziemlich unmöglich erscheint, sie erfolgreich zu bewältigen. In den vergangenen Jahren hat sich die Partei der Europäischen Linken mit ihrem jährlichen Europäischen Forum, aber auch mit anderen Initiativen für den Dialog und die Zusammenarbeit der linken, grünen und fortschrittlichen Kräfte eingesetzt. Wie beurteilst Du die bisherigen Auswirkungen dieser Bemühungen? Was sollten die nächsten Schritte in diese Richtung sein?

Baier: Wir machen Vorschläge, für die wir die Gesellschaften mobilisieren und politische Mehrheiten gewinnen wollen. Aber keine Parteienfamilie, keine ideologische oder kulturelle Strömung kann den Anspruch erheben, die großen Probleme – Friedenssicherung, globale soziale Gerechtigkeit und ökologische Transformation – allein zu lösen. Dialog und Zusammenarbeit sind notwendig. Das Forum progressiver und grüner Kräfte ist eine Initiative, um progressive und grüne Kräfte miteinander ins Gespräch zu bringen.

Aber auch die fortschrittlichen Parteien allein sind nicht in der Lage, die Probleme zu lösen. Wir brauchen Räume, in denen sich der Dialog mit sozialen Bewegungen und Gewerkschaften entfalten kann.

Zurück zu den Europawahlen. Aktuelle Umfragen und Prognosen deuten auf einen deutlichen Anstieg der Rechtsextremen (ID-Fraktion) hin, während die Linke zu stagnieren scheint. Was ist der Hauptgrund dafür? Warum sind die Rechtsextremen eher in der Lage, soziale Unzufriedenheit auszudrücken und davon zu profitieren?

Baier: Die radikale Rechte hat einen natürlichen Startvorteil: Sie ist Fleisch vom Fleische des kapitalistischen Establishments. Obwohl sie oft als das “schwarze Schaf” der Familie angesehen wird, ist sie Teil der Familie. Sie erhält finanzielle und mediale Unterstützung von Teilen der Elite. Ihr Diskurs ist nicht die Antithese zum Neoliberalismus, sondern dessen Steigerung zum kollektiven Egoismus, der sich in Chauvinismus und Rassismus äußert. Deshalb sind die Grenzen zwischen der respektablen und der radikalen Rechten auch so durchlässig. Den konservativen Parteien fällt es nicht allzu schwer, den rechtsradikalen Diskurs zu übernehmen und Koalitionen zu bilden.

Bei der Verteidigung von Menschenrechten und Demokratie verbünden wir uns mit allen demokratischen Kräften. Kultur und Werte sind jedoch nicht die einzigen Schlachtfelder, auf denen wir der extremen Rechten entgegentreten. Um sie zu besiegen, müssen wir den Kampf um die sozialen und wirtschaftlichen Rechte der heutigen Arbeiter*innenklasse führen, das heißt dort, wo die Solidarität von Männern und Frauen, von Einheimischen und Zugewanderten auf der Grundlage von Klasseninteressen wachsen kann. Von besonderer Bedeutung ist der Kampf der Frauen. Das Beispiel der jüngsten Wahlen in Spanien und der Bildung der progressiven Regierung zeigt, dass dieser Kampf sogar gegen die vereinten Kräfte der konservativen und neofaschistischen Rechten gewonnen werden kann.

Welche Ziele und Prioritäten hat die Partei der Europäischen Linken und Du persönlich als ihr Vorsitzender im Hinblick auf die kommenden Wahlen? Kannst Du uns bereits die wichtigsten Aspekte der Kampagne der Partei mitteilen?

Baier: Die bevorstehenden Wahlen zum Europäischen Parlament finden zu einem dramatischen Zeitpunkt statt. 80 Prozent der Europäer empfinden Armut, Krieg und die sozial-ökologische Krise als existenzielle Bedrohung. Daraus ergeben sich die Schwerpunkte der Wahlkampagnen der linken Parteien: Verteidigung der sozialen und wirtschaftlichen Interessen der Lohnabhängigen.

Wir wollen auch einen Unterschied in der Umweltpolitik machen. Im Gegensatz zum Green Deal der Europäischen Kommission und den meisten grünen Parteien zielt unser Ökologieprogramm nicht auf die Versöhnung von Kapitalismus und Ökologie ab, sondern darauf, Kapitalismus und Patriarchat zu überwinden.

Aber letztlich stehen alle unsere Reformvorschläge, politischen Projekte und Strategien, ja sogar unsere persönlichen Lebenspläne unter dem Vorbehalt, dass es uns gelingt, die Gefahr eines großen globalen Krieges abzuwenden. Dies ist der dritte Schwerpunkt unserer Kampagne.

Das Interview wurde geführt vom Online-Journal für internationale und europäische Themen »With wide-angle lens«. Das Interview ist in deutscher Übersetzung erstmals in der Volksstimme 1/2 2024 erschienen. Übersetzung: Michael Stocker.

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