Walter Baier: »Jewish lives matter! Palestinian lives matter. And above all: They matter equally.«

Rede von Walter Baier, Prässident der Partei der Europäischen Linken, auf der Kundgebung »Zusammenstehen I Standing Together I الوقوف معا I עומדים ביחד« am 5. November 2023.

Liebe Anwesende

Immer wenn der Konflikt im Nahen Osten einen seiner dramatischen Höhepunkte erreicht, ereignet sich dasselbe Szenario, das ich erstmals 1967, während des 6-Tage-Kriegs bewusst erlebt habe, als sich das jüdisch-kommunistische Milieu meiner Kindheit plötzlich in zwei, einander feindlich gegenüberstehende Lager teilte.
Immer führt mich das zu einer Frage zurück, die mich durch mein ganzes politisches Leben beschäftigt. Was bedeutet die Shoah heute, mehr als ein Dreiviertljahrhundert nach der Befreiung Europas von der Nazi-Herrschaft?
Doch um Abscheu gegenüber der Ermordung von 1.400 Israelis durch die Hamas zu empfinden, bedarf ich keiner Referenz auf die Shoah. Der Massenmord am 7.Oktober ist ein grauenhaftes Verbrechen, nicht weil er Jüd*innen betraf, sondern Mütter, Väter, Kolleg*innen, Brüder und Schwestern, Menschen, und auch unabhängig davon, ob sie die derzeitige Regierung Israels und die Besatzungspolitik abgelehnt haben oder nicht.
Terror kann niemals ein Mittel der Befreiung sein!
Und aus demselben Grund verurteilen wir die unterschiedslose Bombardierung des Gaza, die in 9 Tagen seit Beginn des israelischen Rachefeldzuges 9.000 palästinensische Leben gefordert hat.
Die einzig ethisch vertretbare Haltung ist daher: Jewish lives matter! Palestinian lives matter. And above all: They matter equally.

Ich selbst komme aus einer Familie, die Opfer des Holocaust wurde, und erst jetzt im Alter stelle ich fest, wie sehr dies meine Kindheit und mein Leben geprägt hat. Aber um zu begreifen, dass 9 Millionen Jüd*innen ein Recht auf ein sicheres Leben in ihrem eigenen Staat, Israel haben, brauche ich diese Erfahrung nicht. Auch hier genügt der menschliche Maßstab. Und aus demselben Grund beschämt mich das Unrecht und das Leid, das dieser Staat – und zwar ziemlich unabhängig davon, welche Regierung ihn führt – den Palästinenser:innen antut.

Es beschämt mich, dass dieses Unrecht angeblich im Namen meiner in Auschwitz ermordeten Großmutter und meines in Dachau gequälten Vater verübt wird. Nein, nicht in deren und nicht in meinem Namen!
Der Kampf gegen den Antisemitismus ist eine ständige politische und kulturelle Verpfichtung. Und so ist es auch der Kampf gegen die Islamfeindlichkeit.
Aber es ist eine Entstellung der geschichtlichen Tatsachen, oder genauer gesagt, eine ungeheure Lüge, dass sich heute die Herren Kickl, Nehammer und Sobotka als die größten Aufklärer wider den Antisemitismus gerieren.
Eine Tatsache kann nicht aus der Welt geschafft werden: Die Shoah ist ein Verbrechen, das weiße Europäer an großteils weißen Europäer*innen verübt haben. Keine Kultur in der, mit grausamen Staatsverbrechen angefüllten Menschheitsgeschichte, hatte es bis zustande gebracht, Fabriken zu bauen, deren Zweck in der industriellen Vernichtung menschlichen Lebens bestand. Nichts kann diese Schande auslöschen, und schon gar nicht der Versuch, sie an Dritte, die Palästinenser*inen und die Muslim*innen sozusagen auszulagern. Das ist nichts anderes als moralischer Kolonialismus.
Ich bin mit einem mulmigen Gefühl zu dieser Kundgebung gekommen. Ich habe angesichts des Meinungsdrucks mit 20 bis 25 Teilnehmer*innen gerechnet. Dass wir heute so viele sind, ist ein wunderbares Zeichen, ein politisches Zeichen, ein Zeichen der Hoffnung.

Übersetzen wir das universelle Recht auf Leben in Frieden und Sicherheit in anwendbare Politik.
Waffenstillstand Jetzt! Bevor der Völkermord an der palästinensischen von der Beschuldigung zur praktizierten Tatsache und der regionale Krieg zum großen, atomaren Krieg des globalen Südens gegen den Norden wird.
Zwei Völker, zwei Staaten!

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