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Peru: Die Menschen wehren sich gegen Ungleichheit und Rassismus

Am 7. Dezember 2022 setzte der peruanische Kongress den linken Präsidenten Pedro Castillo ab. Seitdem protestieren vor allem Menschen aus der indigenen Bevölkerung gegen die neue Regierung und für soziale Rechte und eine verfassungsgebende Versammlung. Über die Hintergründe und Aussichten sprach Argument mit Veronika Hilmer.

Kannst du kurz schildern, wie es zur aktuellen Situation gekommen ist?

Veronika Hilmer: Peru ist schon seit mehreren Jahren politisch sehr instabil. Schon vor Pedro Castillo wurden zwei Präsidenten des Amtes enthoben und zwei weitere mussten zurücktreten. In diesem Kontext hat Castillos Präsidentschaft angefangen. Er kandidierte für die linke Partei, Peru Libre, und versprach, den Reichtum im Land umzuverteilen. Er konnte sich im zweiten Wahlgang ganz knapp gegen die rechte Kandidatin Keiko Fujimori durchsetzen.
Castillo war vom ersten Tag seiner Amtszeit massiven Angriffen ausgesetzt, sowohl aus dem rechtsdominierten Kongress wie durch die Justiz und die Medien, die fast ausschließlich rechtskonservativ orientiert sind. Er und seine Anhänger:innen wurden als „Linksterrorist:innen“ diffamiert. Damit werden Bilder aus der Zeit des Bürgerkriegs aufgerufen, als die maoistische Guerilla Sendero Luminoso im Land aktiv war. Dazu kommt der Rassismus. Denn Pedro Castillo ist ein Indigener aus den Andenregionen. Auch die wirtschaftliche Situation war extrem schwierig. Die Inflation angetrieben von Lebensmittel- und Gaspreisen infolge des Ukrainekriegs ist sehr hoch.

Und wie ist es den Rechten dann gelungen, ihn zu stürzen?

Veronika Hilmer: Castillo war politisch sehr unerfahren und unvorbereitet. Das hat zu einer Reihe schlechter strategischer Entscheidungen geführt. Keine seiner Reformen kam gegen die rechte Mehrheit im Kongress durch. Schon vor seiner Absetzung im Dezember hat er zwei Versuche des Kongresses überstanden, ihn abzusetzen. Beim dritten war klar: Das gewinnt er nicht mehr. Dem versuchte Castillo zuvorzukommen, indem er den Kongress per Dekret auflöste und eine verfassungsgebende Versammlung einberief. Das wurde aber sofort von der Opposition unterbunden. Der Kongress hat ihn noch am selben Tag gemeinsam mit der Generalstaatsanwaltschaft des Amtes enthoben und wegen Rebellion und Amtsmissbrauchs angeklagt. Am Weg zur mexikanischen Botschaft wurde er verhaftet und sitzt seitdem im Gefängnis.
An seiner Stelle wurde die Vizepräsidentin, Dina Boularte, zur Präsidentin gemacht. Sie ist zwar mit Castillo gemeinsam angetreten, hat aber schon lang mit ihm gebrochen, und ist jetzt ganz auf Linie der Rechtskonservativen.
Für die indigene und arme Bevölkerung war das ein Schlag ins Gesicht. Denn zum ersten Mal war einer der ihren an der Regierung. Der Sturz von Castillo wurde als Angriff auf die eigene Identität wahrgenommen.

Du beteiligst dich selbst an den Protesten, wie hast du sie erlebt?

Veronika Hilmer: Ich wollte mich natürlich an den Protesten beteiligen. Allein ist das schwierig. Deswegen habe ich mich als ausgebildete Krankenpflegerin den medizinischen Brigaden angeschlossen. Wir machen wichtige Arbeit, weil es für viele keinen Zugang zu medizinischer Versorgung gibt. Sie ist schlecht und großteils privat und teuer. Deswegen braucht es uns, damit wir verletzten Demonstrant:innen zumindest die notwendigste Versorgung zukommen lassen können.
Es ist krass, zu sehen, wie brutal die Polizei vorgeht. Die Polizei zielt zum Teil mit Tränengasgranaten direkt auf friedliche Demonstrant:innen und in den Südregionen Puno und Ayacucho hat sie gemeinsam mit Militärs der Antiterroreinheit Feuerwaffen eingesetzt. Um überhaupt medizinisch helfen zu können, müssen wir uns in Lebensgefahr begeben. Wir tragen Helme und Gasmasken. Das ist etwas ganz anderes, als auf eine Demo in Deutschland oder Österreich zu gehen.
Im Süden haben die Proteste schon im Dezember angefangen. Das Militär und die Polizei ging dabei sehr brutal vor, nicht nur mit Gummigeschoßen, sondern mit scharfer Munition gezielt auf Köpfe, Brust und Rücken. Dadurch sind Dutzende Menschen gestorben. Bisher gibt es mindestens 70 Tote. Die Dunkelziffer dürfte aber deutlich höher liegen.
In Lima, wo es mehr kritische internationale Presse gibt, ist die Repression geringer – aber auch hier ist schon mindestens ein Demonstrant vom Staat ermordet worden und es gibt viele Verletzte. Deshalb ist es auch so wichtig, dass kritische Medien in die Landregionen gehen und von dort aus berichten. Die Verantwortung dafür trägt Präsidentin Boularte, sie hat den Schießbefehl an Militär und Polizei gegeben.

Wie sieht die soziale Basis der Proteste aus?

Veronika Hilmer: Zunächst, Peru ist regional sehr gespalten zwischen den Andenregionen, dem Regenwald im Osten und den Küstenregionen und der Hauptstadt Lima, in der etwa 13 Millionen der 36 Millionen Peruaner:innen leben. Die Bevölkerung ist eine der ungleichsten der Welt. Vor allem im Süden werden die Ressourcen des Staats, Gold oder Lithium, von ausländischen Konzernen er- bzw. ausgebeutet. Den Bewohner:innen bleibt davon wenig, außer der Naturzerstörung. Vor allem in der Andenregion und zum Teil im peruanischen Teil des Amazonas leben viele Indigene, die oft extrem arm sind. Etwa 30 % der Bevölkerung sind Indigene, zum Großteil Quechua und Aymara. Die Indigenen sind sowohl politisch, kulturell als auch ökonomisch weitgehend ausgeschlossen. Aktuell wird ihre Situation durch die hohe Inflation noch zusätzlich verschärft. Das ist die Basis der aktuellen Bewegung. Insbesondere Indigene und Bauern aus dem Landessüden wehren sich jetzt. Sie kämpfen nicht nur gegen die ökonomische Ungleichheit, sondern auch gegen den tief verwurzelten Rassismus, der sich in Lima konzentriert.

Und was fordert die Bewegung?

Veronika Hilmer: Die Absetzung von Präsidentin Boularte, sofortige Neuwahlen, eine verfassungsgebende Versammlung und natürlich auch soziale Verbesserungen und Rechte. Die Bewegung hat keine zentrale Führung. Die Proteste sind oft regional und spontan entstanden. Bauerngewerkschaften, aber auch die größte Gewerkschaft des Staats haben zu den Protesten aufgerufen.
Die radikalsten Teile der Bewegung werden aber nicht von bestimmten Organisationen kontrolliert. Unter dem Slogan „Toma de Lima“ (Einnahme von Lima) sind tausende Menschen aus dem Süden des Landes in die Hauptstadt gereist und immer mehr schließen sich aus den Nordregionen an, um die Regierung zum Rücktritt zu zwingen und eine verfassungsgebende Versammlung durchzusetzen. Die Forderung nach einer neuen Verfassung ist so wichtig, weil die derzeitige noch aus der Zeit des autoritären Präsidenten Alberto Fujimori stammt.
Die Proteste konzentrieren sich auf das Zentrum von Lima, vor allem auf den Plaza San Martín und Plaza Dos de Mayo. Dort sind solidarische Strukturen entstanden, etwa die Versorgung mit Nahrung, die Verteilung von Hygieneartikeln.
Durch die Ausrufung des Ausnahmezustandes in Lima und in den Südregionen werden die Räume immer enger. Die Regierung hat über die ganze historische Altstadt ein Demoverbot verhängt. Jetzt sind die Protestierenden in die Reichenviertel, etwa in den Parque Kennedy in Miraflores, ausgewichen, doch auch dort lässt die Polizei keine Versammlungen zu und die Demonstrationen werden schnell mit Tränengas und Knüppel unterdrückt.

Wenn die Bewegung so dezentral ist, gibt es eine Perspektive, dass sie sich auch auf der politischen Ebene, etwa bei Wahlen ausdrückt?

Veronika Hilmer: Das ist eines der Hauptprobleme der Bewegung. Es gibt weder eine Partei noch sonst eine linke Kraft, die jetzt die Führung übernehmen könnte. Die Linke ist weitgehend fragmentiert. Natürlich gibt es einige linke Aktivist:innen, die eine Ausstrahlung haben, aber niemanden, die diese Rolle ausfüllen könnte. Die Parteienlandschaft ist insgesamt sehr zersplittert. Im Kongress spielen vor allem Einzelpersonen eine wichtige Rolle, um die sich dann das rechtskonservative Lager sammelt.
Auch die große Gewerkschaft kann die Führung nicht übernehmen. Sie unterstützt zwar auch die Proteste, aber wo sie auftritt, steht sie abseits der realen Kämpfe.

Wie kann man die Bewegung von Europa aus unterstützen?

Veronika Hilmer: Einerseits gibt es auch in europäischen Hauptstädten immer wieder Solidaritätskundgebungen; das wird ganz stark wahrgenommen in der Bewegung in Peru. Und natürlich kann man auch Teile der Bewegung finanziell unterstützen, etwa die Medizinischen Brigaden oder die Brigaden der Anwalt:innen, und kritische Medien, wie Inty Noticias und Timoteo Cutipa Oficial.

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Veronika Hilmer

Veronika Hilmer ist Politikwissenschaftlerin und ausgebildete Krankenpflegerin und momentan zu Besuch bei ihrer Familie in Lima. Sie engagiert sich aktuell in den medizinischen Brigaden, die verletzte Demonstrant*innen versorgen, und ist seit Jahren bei Der Linken in Deutschland und Marx21 aktiv.