Antonio Gramsci Persönlichkeit, Politik, Theorie Teil 5
Von Harald Neubert (18.1.2011)
4. Gramscis Schlußfolgerungen aus dem Situationswandel seiner Zeit
Gramscis Gesellschaftsanalyse und -theorie gründeten sich nicht nur
darauf, daß im Westen die Revolution nicht nach dem Modell der
Oktoberrevolution durchgeführt werden kann, sondern auch darauf, daß sich in
den 20er Jahren beträchtliche Veränderungen in der strategischen,
ökonomischen und sozialen Situation vollzogen.
Erstens: Ein entscheidendes Moment für das revolutionstheoretische Denken
Gramscis war die Tatsache, daß die Revolution auf Sowjetrußland begrenzt
blieb, die revolutionären Kräfte im Westen eine Niederlage erlitten und
somit die Weltrevolution also nicht voranschritt.
Zweitens: Für eine im Revolution Westen müsse es Voraussetzung sein,
zunächst die politischen und geistig-kulturelle Hegemonie in der
Zivilgesellschaft zu erringen, d. h. ein überlegenes politisches
Kräfteverhältnis der sozialistischen Kräfte herzustellen. Dafür muß eine
Gegenhegemonie hergestellt werden.
Aus der Strategie die Kriegsführung benutzte er für die Unterschiedlichkeit
der Revolution im Osten und im Westen die Begriffe Bewegungskrieg
und Stellungskrieg.
Dieselben Militärexperten, die sich, wie vorher auf den
Bewegungskrieg, nun auf den Stellungskrieg festgelegt haben, behaupten sicher
nicht, der vorhergehende Typus müßte von der Wissenschaft verworfen werden;
aber in den Kriegen zwischen den industriell und zivil fortgeschrittensten
Staaten muß eingeschätzt werden, daß er auf eine eher taktische als
strategische Funktion reduziert worden ist und in derselben Position gesehen
werden muß wie vorher der Belagerungskrieg/Stellungskrieg/ im Vergleich zum
Bewegungskrieg. Dieselbe Reduzierung muß in der Kunst und der Wissenschaft der
Politik erfolgen, zumindest was die fortgeschrittensten Staaten angeht, wo die
»Zivilgesellschaft« eine sehr komplexe und gegenüber den katastrophenhaften
Durchbrüchen des unmittelbaren ökonomischen Elements (Krisen, Depressionen
usw.) widerstandsfähige Struktur geworden ist; die Superstrukturen der
Zivilgesellschaft sind wie das Grabensystem im modernen Krieg. [35]
In der Konsequenz bedeutet das, daß die Erringung der politischen und
ideologischen Hegemonie in der Gesellschaft durch die revolutionären Kräfte
(Stellungskrieg) die Voraussetzung für die Eroberung der Macht, d. h. für die
sozialistische Revolution ist.
Der Übergang zur regulierten Gesellschaft, worunter er die
kommunistische Gesellschaft verstand, könne vermutlich Jahrhunderte
dauern,[36] daß also der sozialistische Revolutionszyklus in den
erwarteten Fristen nicht zum Abschluß kommen werde.
Drittens: Die Schlußfolgerung hinsichtlich des Charakters der Revolution im
Westen zog Gramsci auch aus der folgenden Erkenntnis: Er war im Unterschied zur
offiziellen Komintern-Position zu dem Schluß gekommen, daß die kapitalistische
Gesellschaft nach dem Ende der revolutionären Nachkriegskrise in Europa für
die revolutionären Kräfte keineswegs sturmreif war. Während man in der
Komintern offiziell nur von einer relative Stabilisierung des Kapitalismus
sprach, erkannte Gramsci in Wirklichkeit, daß der Kapitalismus in eine neue
Stufe seiner Entwicklung eintrat. Daraus kann man folgern, daß Gramsci im
Unterschied zur Einschätzung der Komintern die Krise nicht als unaufhaltsamen,
gesetzmäßigen Niedergang des Kapitalismus, sondern als einen ökonomischen
Anpassungsprozeß des Systems betrachtete.
In diesem Zusammenhang hat sich Gramsci intensiv mit den entsprechenden
Veränderungen in den USA in Gestalt des Fordismus und Taylorismus
beschäftigt, die für ihn also eine wesentliche Weiterentwicklung und nicht
einfach eine relative Stabilisierung darstellte. Bekanntlich folgten daraus
beträchtliche Modifikationen in der sozialen Situation, im politischen und
sozialpsychologischen Bewußtsein der Arbeiterklasse.
Viertens: In dieses Entwicklungschema ordnete Gramsci also auch den Sieg des
Faschismus 1922 in Italien ein, der der Offensive der revolutionären Bewegung
ein Ende bereitete und eine Phase der Reaktion einleitete.
In der Kommunistischen Internationale wurde erörtert, welchen Platz der
Faschismus im bürgerlichen Herrschaftssystem und somit im Kampf für eine
sozialistische Revolution einnimmt. Man sah in Anlehnung an Lenin praktisch,
aber irrtümlich, die Thesen vom Niedergang der bürgerlichen Gesellschaft, von
der allgemeinen Krise und der Fäulnis des Kapitalismus in seinem
imperialistischen Stadium, vom Imperialismus als Vorabend der sozialistischen
Revolution bestätigt. Die Einschätzung, die ihr Vorsitzender Amadeo Bordiga
formulierte, entsprach der damaligen Meinung der Mehrheit der Kommunisten, daß
nämlich der Faschismus nun die einzige Herrschaftsform der Bourgeoisie wäre,
die ihr noch verbliebe, so daß man annahm, alle kapitalistischen Länder
würden sich tendenziell zum Faschismus hin entwickeln und es bliebe für die
Arbeiterbewegung als einzige Alternative zum Faschismus nur der Sozialismus via
proletarische Revolution. Zitiert sei aus einem Artikel Bordigas 1925 in
L'Unità:
Im Faschismus und in der allgemeinen Gegenoffensive der Bourgeoisie
sehen wir keine Veränderung im Sinne eines Bruchs der Politik des italienischen
Staates, sondern die natürliche Fortsetzung der vor und nach dem Kriege durch
die Demokratie angewandten Methode. Wir glauben nicht an die
Gegenüberstellung von Demokratie und Faschismus. Faschismus könne nur
durch den Sturz des Kapitalismus überwunden werden. [37]
Hieraus erklärt sich die verhängnisvolle Position der Kommunistischen
Partei Deutschlands zu Beginn der 30er Jahre, den Faschismus nicht mit der
Verteidigung der bürgerlichen Demokratie, sondern mit der Losung der Schaffung
eine Sowjetdeutschlands vermittels einer proletarisch-sozialistischen Revolution
bekämpfen zu müssen.
Worin bestand Gramscis Position? Er hatte begriffen, daß das Aufkommen des
Faschismus nicht nur eine Niederlage der Arbeiterbewegung darstellte, sondern
zugleich eine Niederlage der bürgerlichen Demokratie und des Liberalismus. Er
stellte deshalb die These in Abrede, daß der Faschismus nunmehr die
bürgerliche Herrschaft an sich wäre und es zwischen Faschismus und
bürgerlicher Demokratie keinen Unterschied mehr gäbe. Bereits bevor Mussolini
Regierungschef wurde, charakterisierte er den Faschismus, so im April 1921, als
eine degenerierte Kraft der Bourgeoisie, als eine bewaffnete
Garantie des Klassenstaates, als ein Phänomen der bourgeoisen
Reaktion;[38] und im Sommer 1921 gab er zu verstehen, daß er im
Faschismus nicht eine unabwendbare Transformation bürgerlicher Herrschaft sah,
sondern die ihres reaktionärsten Teils, und zwar als Ergebnis eines
Staatsstreichs, eines Staatsstreichs des Generalstabs der
Großgrundbesitzer und der Bankiers; dies sei das drohende
Gespenst, das seit dem Beginn der Legislaturperiode über ihr
schwebt.[39]
Umfassend formulierte Gramsci seine Position in den Programmthesen für den
III. Parteitages der KPI im Jahre 1926: Der Faschismus als Bewegung der
bewaffneten Reaktion, die sich das Ziel stellt, die werktätige Klasse zu
zersplittern und zu desorganisieren, um sie zu entwaffnen, betritt die Bühne
der traditionellen Politik der italienischen herrschenden Klassen
Auf
politischem Gebiet kann im Faschismus hingegen die organische Einheit der
Bourgeoisie nicht sofort nach der Machtergreifung hergestellt werden. Außerhalb
des Faschismus verbleiben Zentren der bürgerlichen Opposition gegen den
Faschismus [40]
Überliefert ist die Wiedergabe einer Rede Gramscis, die er im Sommer
1925 auf einer Aktivtagung der KPI-Föderation in Mailand gehalten hat. Ein
Teilnehmer hat folgendes notiert:
Das italienische Volk kämpft in diesem Moment nicht für die Diktatur
des Proletariats, sondern für die Demokratie. Dies nicht zu verstehen bedeutet,
nicht die Bedeutung der Ereignisse zu verstehen, die sich vor unseren Augen
abspielen.[41]
In gewissem Sinne war Gramscis Auffassung vom Faschismus eine Vorwegnahme der
Schlußfolgerung, die Georgi Dimitroff auf dem VII. Kongreß der Kommunistischen
Internationale 1935. Die werktätigen Massen in einer Reihe von
kapitalistischen Ländern /müssen/ konkret für den heutigen Tag zu wählen
nicht zwischen proletarischer Diktatur und bürgerlicher Demokratie, sondern
zwischen bürgerlicher Demokratie und FaschistMus.[42]
5. Gramscis Verständnis von der Rolle und Funktion von Parteien in der
Gesellschaft generell, der kommunistischen Partei im besonderen
Unter dem Gesichtspunkt, worin nach Gramscis Auffassung Rolle und Funktion
einer kommunistischen Partei bestehen müsse, lassen sich mehrere Aspekte aus
seinen entsprechenden Äußerungen entnehmen.
- Um ihre historische Aufgabe zu erfüllen, bedürfe die Arbeiterklasse einer
revolutionären Partei. Es gehe dabei um einen vielschichtigen Prozeß von
Aktivität, aus der ein kollektiver Wille mit einem gewissen Grad an
Homogenität entsteht
, der notwendig und ausreichend ist, um zu
gegebener, historisch entscheidender Zeit eine koordinierte und simultane
Aktion (der Klasse) durchzuführen. Somit sei der moderne
Fürst nicht als Individuum, sondern nur als Organismus
denkbar, als ein Element der komplexen Gesellschaft, in der sich bereits
ein anerkannter kollektiver Willen herauszubilden beginnt und sich partiell in
der Aktion bestätigt.[43]
- In Auseinandersetzung mit dem ökonomischen Determinismus Kautskys und dem
Reformismus Bernsteins betonte Gramsci ebenso wie Lenin und Rosa Luxemburg
deshalb die aktive, gestaltende Rolle der Partei als revolutionäres Subjekt. In
diesem Sinne trat er ab 1919 für die (revolutionäre) Erneuerung der
Sozialistischen Partei und sodann für die Gründung der Kommunistischen
Partei ein.
- Mit der sektiererischen Verfaßtheit der 1921 gegründeten KPI war er nicht
einverstanden. Seine Briefe hierzu seien nochmals zitiert.[44]
So hatte er bekanntlich am 5. Januar 1924 aus Wien an Mauro Scoccimarro
geschrieben: Ich habe auch ein anderes Konzept /als das Bordigas, – H.
N./ von der Partei, ihrer Funktion, ihren Beziehungen, die zwischen ihr und der
Masse der Parteilosen, zwischen ihr und der Bevölkerung im allgemeinen
hergestellt werden müssen.
Und in dem Brief vom 9. Februar 1924 an Togliatti und Terracini, ebenfalls aus
Wien, hatte er noch ausführlicher sein Parteiverständnis und somit seine
Kritik an Bordigas Konzept begründet. Ich denke, daß der Moment gekommen
ist, der Partei eine andere Richtung als die zu geben, die sie bisher hatte. Es
beginnt nicht nur in der Geschichte unserer Partei, sondern auch in der unseres
Landes eine neue Phase In unserer Partei hat man einen weiteren gefährlichen
Aspekt beklagt: sich gegenüber jeglicher Aktivität der einzelnen zu enthalten,
die Passivität der Masse der Partei, die stumpfsinnige Sicherheit derer, die an
alles denken und alles voraussehen
Der Fehler der Partei besteht darin, in
den Vordergrund und in abstrakter Weise das Problem der Organisation der Partei
gestellt zu haben, woraus sich sodann ein Apparat von Funktionären
herausbildete, die sich gegenüber der offiziellen Linie orthodox verhalten. Man
glaubte und glaubt noch immer, daß die Revolution allein von der Existenz eines
solchen Apparates abhängt, und man endet schließlich im Glauben, daß dessen
Existenz die Revolution hervorbringt
Die Partei ist nicht konzipiert als das
Ergebnis eines dialektischen Prozesses, in dem sich die spontane Bewegung der
revolutionären Massen und der organisierende und führende Wille des Zentrums
vereinen
- Die Partei mußte, wie es der Tradition der Arbeiterbewegung entsprach, die
Einheit von Theorie und Praxis verkörpern. Dabei wandte er sich gegen die
damals verbreitete Dogmatisierung der Theorie, gegen einen realitätsfremden
Umgang mit ihr, gegen unzulässige Verallgemeinerungen von Erkenntnissen und
Erfahrungen.
- Vom damaligen Parteiverständnis in der Arbeiterbewegung beschäftigten
Gramsci das Verhältnis von Partei und Klasse, die Dialektik sowie die aktive
Rolle der Partei gegenüber der Klasse. Er betrachtete politische Parteien die
Nomenklatur einer Klasse, so daß er die kommunistische Partei
selbstverständlich für die Nomenklatur der Arbeiterklasse hielt, die auf
die Klasse aktiv einwirken müsse.
So schrieb er: Wenn es tatsächlich wahr ist, daß die Parteien nichts
anderes sind als die Nomenklatur der Klassen, ist es ebenfalls wahr, daß die
Parteien nicht nur ein mechanischer und passiver Ausdruck der Klassen selbst
sind, sondern nachdrücklich auf diese zurückwirken, um sie zu entwickeln, zu
festigen, zu universalisieren.[45]
Daß Parteien die Nomenklatur nur einer bestimmten Klasse seien, ist heute nur
insofern relativ zutreffend, als die Parteien vorgeben, die Interessen einer
bestimmten Klasse wahrzunehmen. Im soziologischen Sinne, vom Gesichtspunkt der
Mitgliedschaft trifft das schon gar nicht mehr zu.
- In Übereinstimmung mit Engels, Kautsky und Lenin betrachtete er deshalb die
bewußtseinsbildende Funktion der Partei als eine entscheidende Aufgabe.
- Im Leninschen Sinne befürwortete auch Gramsci die führende Rolle der
kommunistischen Partei. Er leitete diese aber nicht aus einem theoretischen
Postulat, aus einer abstrakt formulierten Gesetzmäßigkeit ab, wie das bei den
Komintern-Parteien üblich war. Die Führungsrolle dürfte seiner Meinung nach
der Klasse jedoch nicht oktroyiert werden. So wurde das Verhältnis von Partei
und Arbeiterklasse bereits 1926 folgendermaßen charakterisiert: Das
Prinzip, demzufolge die Partei die Arbeiterklasse führt, darf nicht in
mechanischer Weise interpretiert werden. Man soll nicht glauben, daß die Partei
die Arbeiterklasse durch einen von außen kommenden autoritären Anspruch
führen könne; sie ist weder für die Zeit, die der Machtergreifung vorausgeht,
noch für die Zeit, die ihre folgt, richtig
Wir behaupten, daß die
Fähigkeit zur Führung der Klasse sich nicht aus der Tatsache ergibt, daß sich
die Partei als revolutionäres Organ der Klasse proklamiert, sondern aus der
Tatsache, daß es ihr effektiv gelingt, als Teil der Arbeiterklasse sich mit
allen Sektionen dieser Klasse zu verbinden und den Massen eine Bewegung in der
von den objektiven Bedingungen hervorgerufenen und begünstigten Richtung zu
geben.[46]
- Wohl eingedenk seiner kritischen Wahrnehmung der sowjetischen Verhältnisse
unterschied er hinsichtlich der inneren Parteistruktur zwischen
organischäm, demokratischem und
bürokratischem Zentralismus.Der organische Charakter des
Zentralismus könne nur in Gestalt des demokratischen Zentralismus
existieren, der sozusagen ein Zentralismus der Bewegung ist, was eine
ständige Anpassung an die reale Bewegung bedeutet. Dies müsse verbunden
sein mit der Akkumulation immer neuer Erfahrungen. Der Zentralismus sei
organisch, weil er die Bewegung, das heißt die historischen
Veränderungen der Bedingungen berücksichtigen müsse, was bedeutet, auf
organische Weise die historische Realität zu erfassen.[47]
- Die Bündnispolitik von Parteien ordnete Gramsci in seine
Überlegungen zum historischen Block ein. Dies war eine gewisse
Vorwegnahme der Anerkennung von Pluralität des subjektiven Faktors. Mit diesem
Begriff, seinem Wesen und seiner Funktion und in diesem Block mit der Rolle
der Intellektuellen beschäftigte er sich besonders im Zusammenhang mit der
Realisierung von Hegemonie. Als historischen Block versteht er ein
gesellschaftliches Ensemble, in dem eben die materiellen Kräfte der
Inhalt sind und die Ideologien die Form, weil die materiellen Kräfte historisch
nicht begreifbar wären ohne die Form
[48] Es handelt sich nach seiner
Auffassung, mit anderen Worten ausgedrückt, um ein Bündnis von bestimmten
sozialen und politischen Kräften, von Regierenden und Regierten, mit einer
bestimmten ideologischen Ausrichtung, verwurzelt in den realen
gesellschaftlichen Strukturen, in den Produktionsverhältnissen.
- Diese historische Aufgabe zu bewältigen erfordert die aktive
Mitwirkung der Intellektuellen, mit deren Platz und Rolle in der
Gesellschaft sich Gramsci gründlich beschäftigt. Er unterschied zwischen
organischen und traditionellen Intellektuellen. Zu den organischen
Intellektuellen: Jede gesellschaftliche Gruppe schafft sich, während sie
auf dem originären Boden einer wesentlichen Funktion in der Welt der
ökonomischen Produktion entsteht, zugleich organisch eine oder mehrere
Schichten von Intellektuellen, die ihr Homogenität und Bewußtheit der eigenen
Funktion nicht nur im ökonomischen, sondern auch im gesellschaftlichen und
politischen Bereich geben
[49] Ihre besondere Aufgabe dabei bestehe
darin, sowohl die (komplexe) Hegemonie wie auch die Herrschaft der Klasse oder
Gruppe zu erringen, zu erhalten und zu rechtfertigen. Die Intellektuellen
sind die Gehilfen der herrschenden Gruppe bei der Ausübung der subalternen
Funktionen der gesellschaftlichen Hegemonie und der politischen Regierung,
nämlich 1. des spontanen Konsenses, den die großen Massen der
Bevölkerung der von der herrschenden grundlegenden Gruppe geprägten
Ausrichtung des gesellschaftlichen Lebens geben, eines Konsenses, der
historisch aus dem Prestige (und folglich aus dem Vertrauen) hervorgeht, das
der herrschenden Gruppe aus ihrer Stellung und ihrer Funktion in der Welt der
Produktion erwächst; 2. des staatlichen Zwangsapparates, der legal die
Disziplin derjenigen Gruppen gewährleistet, die weder aktiv noch passiv
zustimmen
[50] Als einen zentralen Punkt seiner Überlegungen
betrachtete Gramsci in diesem Zusammenhang also die Unterscheidung
zwischen Intellektuellen als organischer Kategorie jeder grundlegenden
Gesellschaftsgruppe und Intellektuellen als traditioneller Kategorie.[51]
Während also die organischen Intellektuellen das Produkt
bestimmter sozialer Klassen oder Gruppen sind, existieren die
traditionellen Intellektuellen, die die Repräsentanten einer
selbst durch die komplexesten und radikalsten Veränderungen der
gesellschaftlichen und politischen Formen nicht unterbrochenen geschichtlichen
Kontinuität darstellen, also eine gesellschaftliche Schicht, die
unabhängig vom Übergang der Herrschaft einer Klasse/Gruppe zur anderen
in lückenloser Kontinuität fortbesteht.[52]Es gehöre zu den
Merkmalen einer Gruppe,die sich auf die Herrschaft hin entwickelt,
um
die Assimilierung und ideologische Eroberung der traditionellen
Intellektuellen zu kämpfen, was um so schneller geschehe und um so
wirksamer wäre, je mehr die gegebene Gruppe gleichzeitig ihre eigenen
organischen Intellektuellen heranbildet.[53]
6. Lassen Gramscis Auffassungen auf Ursachen des Scheiterns sozialistischer
Ordnungen schließen?
Ein Konzept einer sozialistischen Gesellschaft hat Gramsci nicht entworfen;
schon gar nicht hatte er deren Zusammenbruch vorausgeahnt und über dessen
eventuelle Ursachen nachgedacht. Man kann lediglich in diesem Zusammenhang
Prinzipien und Forderungen anführen, die seiner Meinung nach in einer jeden
Gesellschaft, erst recht wohl in einer sozialistischen, zwecks innerer
Stabilität zu gelten hätten.
Dennoch bieten einige seiner Positionen ausreichend Anlaß, sie auf die
Ursachensuche nach dem Niedergang und dem Scheitern der sozialistischen
Ordnungen in Europa zu übertragen.
- Es wurde bereits auf das Problem der nicht ausgebildeten Zivilgesellschaft
im Sozialismus hingewiesen. Die ganze Gesellschaft erwies sich als
verstaatlicht, so daß die Formierung einer eigenen Zivilgesellschaft einen
Konflikt mit der politischen Gesellschaft heraufbeschwor. Die Macht war
unzureichend oder überhaupt nicht durch eine in der Zivilgesellschaft errungene
und immer wieder aufs Neue gewährleistete Hegemonie untermauert.
- Gramsci hatte betont, daß eben die Hegemonie auch danach, wenn eine Klasse
die Macht ausübt und auch, wenn sie sie fest in den Händen hält
und herrscht, auch weiterhin führend bleiben müsse.[54]Wie
zum Beispiel eine Partei an der Spitze eines von ihr geschaffenen und regierten
Staatswesens verfaßt sein müßte und was passiert, wenn diese Prinzipien
verletzt und die Hegemonie verloren gehen würden, beschrieb Gramsci wie folgt:
An einem gewissen Punkt ihres historischen Daseins trennen sich die
sozialen Gruppen von ihren traditionellen Parteien, das heißt, die
traditionellen Parteien in dieser gegebenen organisierten Form, mit diesen
bestimmten Leuten, die sie konstituieren, sie repräsentieren und sie führen,
werden nicht mehr von ihrer Klasse oder Fraktion der Klasse als deren Ausdruck
anerkannt. Wenn diese Krisen sich offenbaren, wird die unmittelbare Situation
delikat und gefährlich, weil das Feld für Gewaltlösungen, für die Aktivität
obskurer Mächte, verkörpert von heilbringenden oder charismatischen Personen,
offen ist… Und der Inhalt ist die Krise der Hegemonie der führenden Klasse,
die eintritt, weil die führende Klasse in mancher ihrer politischen
Unternehmung gescheitert ist, derentwegen sie mit Gewalt den Konsens der großen
Massen (als Krieg) gefordert oder errichtet hat oder weil breite Massen
(speziell der Bauern und kleinbürgerlichen Intellektuellen) schlagartig
übergegangen sind von der politischen Passivität zu einer gewissen Aktivität
und Forderungen stellen, die in ihrem disorganischen Komplex eine Revolution
darstellen. Man spricht von einer ‚Krise der Macht‘ und das bedeutet gerade
die Krise der Hegemonie, oder Krise des Staates in seiner
Komplexität.[55]
- Es wurde auch bereits seine Anforderung an einen demokratischen
Zentralismus und die von ihm vorausgesagten Konsequenzen eines im Staate
praktizierten bürokratischen Zentralismus angeführt. Zitiert sei auch die
folgende Feststellung: Die hegemonische Funktion oder die politische
Führungsfunktion der Parteien kann am Ablauf des inneren Lebens der Parteien
selbst eingeschätzt werden. Wenn der Staat die zwingende und strafende Gewalt
der juristischen Durchregelung eines Landes darstellt, so müssen die Parteien
die das freiwillige Zugehören einer Elite zu einer solchen Durchregelung
repräsentieren, die als Typus kollektiven Zusammenlebens betrachtet wird, zu
dem die gesamte Masse erzogen werden muß, in ihrem inneren Sonderleben
zeigen, daß sie diese Regeln, die im Staat rechtliche Verpflichtungen sind, als
Prinzipien moralischen Verhaltens assimiliert haben. In den Parteien ist die
Notwendigkeit bereits Freiheit geworden, und hieraus entsteht die überragende
politische Bedeutung (nämlich von politischer Führung) der inneren Disziplin
einer Partei [56]
- Es muß auch auf die bereits oben zitierte Aussage verwiesen werden, daß
die Partei die Arbeiterklasse nicht durch einen von außen kommenden
autoritären Anspruch führen könne, dies weder für die Zeit, die
der Machtergreifung vorausgeht, noch für die Zeit, die ihre folgt,
richtig ist, da die Fähigkeit zur Führung der Klasse sich nicht
aus der Tatsache ergibt, daß sich die Partei als revolutionäres Organ der
Klasse proklamiert, sondern aus der Tatsache, daß es ihr effektiv
gelingt, als Teil der Arbeiterklasse sich mit allen Sektionen dieser Klasse zu
verbinden.[57]
- Welche Rolle der von Gramsci definierte historische Block besitzt, wurde
schon dargelegt, muß also auch in den Zusammenhang mit der Funktionsweise des
politischen Systems im Sozialismus gestellt werden.
7. Die nationale und internationale Dimension der Arbeiterbewegung
- Gramsci hatte das zentralistische, hierarchische
Internationalismus-Verständnis, das der Gründung der Kommunistischen
Internationale zugrunde lag, gebilligt. In diesem Sinne hat er die
Zugehörigkeit der KPI zur Komintern, zur kommunistischen Weltpartei, als deren
Sektion bis zu seiner Verhaftung im Oktober 1926 nicht in Frage gestellt. In
den Gefängnisheften fehlen Bezüge auf die Komintern. Erwähnt wurde bereits,
daß er während der Gefängnishaft nicht als Führer der KPI genannt werden
wollte.
- Entsprechend dem kommunistischen Internationalismus-Verständnis hat auch
Gramsci damals die führende Rolle der KPdSU anerkannt, allerdings unter ganz
bestimmten Bedingungen, die er 1926 verletzt sah. Er hielt er es jedoch für
zwingend, daß die KPdSU diese ihre Rolle und Verantwortung auf die
Respektierung der Interessen der anderen Parteien und auf deren freiwillige
Zustimmung gründet
- Als Mitte der 20er Jahre in der Sowjetunion die parteiinternen
Auseinandersetzungen, zunächst zwischen den Anhängern Stalins und den
Anhängern Trotzkis, begannen, die einerseits keinerlei Rücksicht auf die
Befindlichkeiten der anderen kommunistischen Parteien nahmen, aber andererseits
zersetzende Wirkungen auf diese Parteien ausübten, kam Gramsci zu dem Schluß,
daß die KPdSU ihre internationalistische Pflicht und Verantwortung verletze
und den anderen Parteien schade. In einem Brief an das ZK der KPdSU schrieb er
Anfang Oktober 1926 aus tiefer Sorge folgendes: Die breiten Massen im Westen
würden die Diskussionen in der KPdSU nicht verstehen. Vor allem die westlichen
Parteien wollen in der Sowjetrepublik und der KPdSU einen einheitlichen
Kampftrupp sehen, der für die allgemeine Perspektive der Sozialismus
tätig ist. Nur in dem Maße, wie die westeuropäischen Massen Rußland und die
russische Partei unter diesem Gesichtspunkt betrachten, akzeptieren sie
freiwillig und als eine historisch notwendige Tatsache, daß die Kommunistische
Partei der UdSSR die führende Partei der Internationale ist. Im Rahmen
der Internationale ist die KPI diejenige Partei, die am meisten die
Auswirkungen der in der KP der UdSSR bestehenden ernsten Situation zu spüren
bekommt. Generell werde dadurch der Entwicklungs-, Profilierungs- und
Konsolidierungsprozeß der Parteien im Westen erschwert. Die Funktion,
die Ihr ausübt, findet in der ganzen Geschichte des Menschengeschlechts
hinsichtlich der Breite und Tiefe nichts Vergleichbares. Heute aber seid Ihr
dabei, Euer Werk zu zerstören; Ihr degradiert die Führungsfunktion, die die
Kommunistische Partei der UdSSR durch das Engagement Lenins errungen hat, und
Ihr geht das Risiko ein, sie ganz zu verlieren. Uns scheint, daß die mit
Gewalttätigkeit verbundene Entwicklung der russischen Probleme Euch die
internationalen Aspekte eben dieser russischen Probleme aus den Augen verlieren
läßt, daß sie Euch vergessen läßt, daß Eure Pflichten als russische
Kämpfer nur erfüllt werden können und müssen im Rahmen der Interessen des
internationalen Proletariats.[58]
- Ein anderes Problem war für ihn das Verhältnis von nationalem und
Internationalem im Kampf der Arbeiterklasse für Sozialismus. Indem Gramsci auf
ein Gespräch Stalins aus dem Jahre 1927 Bezug nimmt,[59] erklärt er
ausdrücklich, daß ein Punkt entwickelt, also vertieft werden müsse, da er
offenbar der Meinung war, die Darlegungen Stalins würden dem Problem nicht
gerecht werden. Unter Berufung auf die Philosophie der Praxis in deren
Ausdrucksform entsprechend den Formulierungen von Marx und den
Präzisierungen von Lenin müsse die internationale Situation unter
ihrem nationalen Aspekt betrachtet werden
In Wirklichkeit ist das
nationale Verhältnis das Ergebnis einer (in einem gewissen Sinn)
einzigartigen originellen Kombination, die in dieser Originalität und
Einzigartigkeit begriffen und aufgefaßt werden muß, wenn sie beherrscht und
geführt werden soll. Gewiß geht die Entwicklung hin zum Internationalismus,
aber der Ausgangspunkt ist national, und bei diesem Ausgangspunkt gilt es
anzufangen. Doch die Perspektive ist international und kann nur so sein. Deshalb
muß man genau die Kombination der nationalen Kräfte studieren, welche die
internationale Klasse gemäß der internationalen Perspektive und deren
Leitlinien wird führen und entwickeln müssen [60]
[35] Antonio Gramsci: Quaderni del carcere. A cura di Valentino
Gerratana. Bd. II, Turin 1975, S. 866; die deutsche, ein wenig abweichende
Übersetzung in: Gefängnishefte, Bd. 7, S. 1589
[36] Ebd., Bd. 4, S. 888
[37] LUnità, Rom, 6. September 1925
[38] Sintomi. In: LOrdine Nuovo, 2. April 1921, zit. nach:
Antologia degli scritti, Bd. 1, S. 115
[39] Socialisti e fascisti. In: L'Ordine Nuovo, 21. Juni 1921;
nachgedruckt in: Scritti politici. Bd. 2, S. 224
[40] La situazione italiana e i compiti des PCI. In: Scritti
politici. Bd. 3, S. 279 – 283; Auszuege in Deutsch in: A. Gramsci: Zur
Politik, Geschichte und Kultur. Ausgewaehlte Schriften. Leipzig 1980, S.
148 – 163. Unterstreichung von mir – H. N.
[41] Nach der Mitschrift von Giovanni Farina; zit. in: Giuseppe
Fiori: Vita di Antonio Gramsci. Bari 1966, S. 232
[42] G. Dimitroff: Die Offensive des Faschismus und die Aufgaben den
Kommunistischen Internationale im Kampf fuer die Einheit der Arbeiterklasse
gegen den Faschismus. In: VII. Weltkongress der Kommunistischen Internationale.
Referate. Aus der Diskussion. Schlusswort. Resolutionen. Frankfurt a. M. 1971,
S. 76
[43] Gramsci: Quaderni del carcere, Bd. III, S. 1555 ff. (deutsch:
Gefängnishefte, Bd. 7, S. 1553 ff.)
[44] Siehe Anm. 7
[45] Gefängnishefte, Bd. 2, S. 422
[46] So in den von Gramsci redigierten Thesen zum III. Parteitag der
KPI 1926; zit. nach: Scritti politici. Bd. 3, S. 297
[47] Gefängnishefte, Bd. 7, S. 1606 f.
[48] Ebd., Bd. 4, S. 876
[49] Ebd., Bd. 7, S. 1497
[50] Ebd., S. 1502
[51] Ebd., S. 1504
[52] Ebd., S. 1498
[53] Ebd., S. 1500
[54] Siehe Anm. 32
[55] Gefängnishefte, Bd. 7, S, 1577 f.
[56] Ebd., Bd. 4, S. 921
[57] Siehe Anm. 45
[58] In: Scritti politici, Bd. 3, S. 232 – 238; deutsch in:
Gramsci – vergessener Humanist, S. 69 - 76
[59] Gemeint ist sicherlich die Unterredung Stalins mit der ersten
amerikanischen Arbeiterdelegation im September 1927 in der Sowjetunion. In:
Stalin: Werke, Bd.10, S. 81 – 129. Stalin hatte gegenüber seinen
amerikanischen Gästen vor allem über die inneren Probleme der Sowjetunion und
eigentlich nur beiläufig von der Entwicklung der internationalen Revolution
und davon gesprochen, daß die Arbeiterklasse in den kapitalistischen
Ländern… bloßer Zuschauer der siegreichen Entwicklung des Sozialismus in
diesem oder jenem Lande zu sein sich nicht abfinden würde.
[60] Gefängnishefte, Bd. 7, S. 1692